Goldene Hochzeit von Oma und Opa Cornelissen
7 Jahrzehnte in Borbeck und Frintrop
Am 14. Oktober 1978 feierten Hermann und Maria Cornelissen (die Eltern des Verfassers) mit der gesamten erreichbaren Verwandtschaft ihre Goldene Hochzeit in der "Talschenke" in der Bedingrader Straße in Essen-Frintrop. Ein paar Tage später folgte die Feier mit der Nachbarschaft an der gleichen Stelle. Die "Talschenke" - früher hieß es einfach "bei Küppers" - liegt nur etwa 200 m von ihrer Wohnung in derselben Straße, in der schon Hermann geboren wurde.
Sohn Jupp hielt dabei folgenden Rückblick auf ihr Leben:
Unsere Eltern haben das nicht alltägliche Glück, ihre Goldene Hochzeit feiern zu dürfen. Sie können dabei auf 50 Jahre - anders ausgedrückt: auf ein halbes Jahrhundert - zurückblicken, die sie gemeinsam durchs Leben gegangen sind. Ich möchte jetzt hier keine schöne Ansprache halten mit Worten wie Dank, Besinnung, Gnade usw. Vielleicht bringt es für alle mehr, wenn ich versuche, diese 50 Jahre oder sogar ihre rund 75 Lebensjahre noch einmal in den denkwürdigsten Ereignissen nachzuzeichnen.

Hochzeit
Am 9. Oktober 1928 traten Hermann Cornelissen und Maria Ruland "vor den Traualtar", wie es so schön heißt, und zwar in der Dionysius-Kirche in Borbeck. Er, gerade 26 Jahre geworden, ein Junge aus Frintrop, sie, nicht ganz 25, ein Mädchen aus Borbeck. Zwischen Borbeck und Frintrop sollte sich dann auch - bis auf die Zeit im Krieg - ihr weiteres Leben abspielen. Es wird inzwischen wohl viele tausend Male sein, daß sie den Weg von Frintrop nach Borbeck oder umgekehrt zurückgelegt haben, und zwar meist zu Fuß oder Hermann mit dem Fahrrad.

Wenn manchmal zu hören ist, daß das Kennenlernen beim Tanzvergnügen selten zu dauerhaften Ehen führt, haben wir hier den Beweis des Gegenteils vor uns: Sie lernten sich beim Tanz in Borbeck kennen, in der Gaststätte Düllmann auf der Bocholder Straße. Und der rotblonde Hermann hatte "schon einige auf", sonst hätte er gar nicht gewagt, das dunkelhaarige, zierliche Mädchen zu fragen, ob er es nach Hause bringen dürfe.

Maria
Maria Ruland war am 24. November 1903, also heute vor beinahe 75 Jahren, in Borbeck in der Kuhstraße als jüngstes von sieben Kindern geboren worden: Maria, Albert, Nelli, Anna, Willi, Peter und ein siebtes Kind, das früh gestorben ist, dessen Namen wir nicht mehr finden konnten. Zwei Brüder fielen im Ersten Weltkrieg, der eine in den ersten Kriegstagen, der andere wenige Tage vor Kriegsende. Von den Geschwistern ist heute nur noch Albert am Leben, zwei Jahre älter als sie, mit dem sie besonders viel zusammen war. Noch heute schwärmt sie davon, was für ein phänomenaler Läufer ihr Bruder war und daß er bei Sportfesten häufig den ersten Preis im Laufen bekam.

Marias Vater Gottfried Ruland oder "Opa Borbeck", wie wir ihn nannten, - für viele von uns hier der gemeinsame Großvater oder Urgroßvater - war mit seinen Brüdern aus der Eifel ins Ruhrgebiet gezogen, wo damals etwas mehr oder überhaupt etwas zu verdienen war.

Wenn wir uns noch recht an die Erzählungen unserer Mutter erinnern - und sie erzählte viel von ihrer Jugend, die sie größtenteils in der Heißener Straße in Borbeck verbrachte -, arbeitete Opa Ruland zunächst als Straßenbahnschaffner, später als Straßenbahnführer. Er fuhr die erste Straßenbahnlinie von dem damals noch selbständigen Borbeck nach Essen Stadtmitte über das seinerzeit wohl ziemlich verschrieene Segeroth. Dann wurde er Kruppianer, was damals anscheinend für einfache Leute schon einiges war. Häufig haben wir von Mutter mit einem gewissen Stolz sagen hören: "Mein Vater war dreißig Jahre bei Krupp im Feuerbetrieb". Er arbeitete nämlich in der Kernzelle der Kruppschen Werke, in der Gießerei, wo er später auch Vorarbeiter wurde. Mit der Hand trugen sie damals - in Kolonnen aus je zwei Mann - den flüssigen Stahl vom Schmelzofen zu den Formen. Oft wurde uns Kindern später davon erzählt, wie der deutsche Kaiser oder einige ausländische Potentaten die Gießerei besichtigten und was sich dabei abspielte. Im übrigen war Opa Ruland mit der ganzen Familie streng katholisch, Zentrumswähler, Träger eines imposanten Spitzbauches wie Schnurrbartes und "politikte" offenbar gern.

Marias Mutter war früh verstorben, sie hat sie nie richtig gekannt. Opa Ruland mit seinen sieben Kindern heiratete dann zum zweiten Male, und zwar für die damalige Zeit eine Frau "aus besseren Kreisen". Sie kam aus Wiedenbrück in Westfalen. Diese "Stiefmutter" wurde aber eine sehr gute Mutter, ganz anders als Stiefmütter im Märchen gemeinhin dargestellt werden.

Mehrmals fuhr die junge Maria zu den Verwandten nach Wiedenbrück oder half den Verwandten mütterlicherseits in Frillendorf, die dort eine Poststelle sowie eine Sattlerei und Polsterei hatten. Dies waren für Maria für viele Jahre die einzigen Reisen. Im übrigen war sie bis zu ihrer Heirat "Haustochter", die ihrer Mutter im Haushalt behilflich war.

Aus ihrer Schulzeit für die Kinder von heute noch eine häufig erzählte Erinnerung: Zur Schule ging man in Holzschuhen, Klotschen genannt; Schuhe wurden nur sonntags zum Kirchgang getragen. Kam der Schulrat in die Schule, durften die Kinder mit den am gründlichsten gescheuerten Klotschen in der ersten Reihe sitzen. Und hierzu gehörten auch häufig die Rulandskinder. Überhaupt schlugen sich zumindest einige von ihnen in der Schule recht gut. Wenn die Mär stimmt, wurden Aufsätze von Nelli und Maria Ruland - also unserer Mutter - als beste Aufsätze der Schule in das Schularchiv übernommen.

Hermann
Der Bräutigam Hermann stammte ebenfalls aus einer Familie mit sieben Kindern, die es aber wesentlich schwerer als die Rulands hatten. Hermann wurde am 4. Oktober 1902 in Frintrop in der Bedingrader Str. 173 geboren, in dem Haus, in dem er heute noch wohnt. Sein Vater war Bergmann und verunglückte mit 32 Jahren auf der Zeche Kattendahl, als Hermann gerade erst in die Schule gekommen war. Seine Mutter, die 84 Jahre alt wurde, mußte die Kinder allein durchbringen. Von den Kindern lebt außer Hermann nur noch Bernhardine, "unsere Dinni", die heute mit ihren 74 Jahren, die ihr keiner ansieht, frisch wie eh und je unter uns weilt.

Als Hermann mit 14 Jahren aus der Schule kam, ging es auf die Zeche, wo er untertage eine Grubenlokomotive fuhr. Beim Rangieren kam er mit dem Fuß zwischen die Schienen. Sein Leben lang hatte er deswegen gewisse Beschwerden beim Gehen und bekam hierfür später auch eine kleine Knappschaftsrente.

Erste Jahre nach der Heirat
Das junge Paar richtete sich eine Wohnung ein im hinteren Teil des Nachbarhauses, bei Stöckmann, Bedingrader Straße 163, etwa 50 m neben Hermanns Elternhaus. Um den bescheidenen Lohn aufzubessern, mußte was getan werden: Der zur Wohnung gehörende große Garten - von uns nicht "Garten", sondern "Land" genannt - wurde intensiv bearbeitet. Gemüse und große Mengen Kartoffeln wurden angepflanzt. Dazu kam Roggen, den wir dann bei Bauer Lugge in Dümpten dreschen ließen, und anderes Viehfutter, denn das Paar hatte sich auch eine Anzahl Vieh angeschafft. Jedes Jahr wurde ein Schwein herangefüttert, das um den Nikolaustag herum von Heini Stöckmann, der im selben Haus wohnte, geschlachtet, zerteilt und verwurstet wurde. Daran erinnere ich mich besonders gut. Es war jedes Mal ein richtiges Schlachtefest. Das Schwein hing draußen auf der Leiter. Am ersten Abend gab es für alle Panhas, am zweiten Tag die sogenannte "Pummelwurst". Und wir Kinder bekamen die aufgeblasene Schweinsblase zum Fußballspielen.

Dann hatten wir natürlich einen großen Kaninchenstall für den Sonntagsbraten. Wir Kinder wurden schon in ziemlich jungen Jahren losgeschickt mit einem Korb, um "Kettenbüsche", nämlich Löwenzahn für die Tiere zu suchen.

Während Schwein und Kaninchen zu der Zeit auch noch bei vielen anderen Familien im Stall waren, begannen die Cornelissens etwas Neues, nämlich die Hühnerzucht. Hermann hatte schon als Junge Interesse an allen Arten von Geflügel gehabt. Wie sechs Millionen anderer Deutscher wurde er 1930 erwerbslos und blieb dies für sieben lange Jahre. Die Erwerbslosenunterstützung reichte kaum aus für die junge Familie, denn 1929 war das erste Kind geboren worden, Trude. Ein Jahr später, 1930, kam Helmi an, schließlich 1934 der erste Junge: Jupp. Man hatte aber viel Zeit. Auf einer Handkarre oder mit dem Fahrrad wurden von überallher gebrauchte Balken und Bretter, ausgediente Fabrikfenster herangeholt, krumme Nägel wieder gerade geschlagen und so der erste Hühnerschuppen gebaut. Dies alles im Gegensatz zu den heutigen Wirtschaftsgrundsätzen nach der Devise: Geringstmöglicher Kapitaleinsatz, dafür umso mehr Arbeitskraft. Die Hühner wurden aus Küken selbst herangezogen. Die jungen Hähne und alten Hühner, vor allem aber die Eier wurden nach Deckung des Eigenbedarfs verkauft. Mit dem Eierkorb ging Maria mehrmals in der Woche zu ihren Kunden in Frintrop und Borbeck oder diese holten die Eier bei uns ab.

Bei all dem kam Hermann zustatten, daß er neben seinem "Hühnerverstand" sehr geschickt im Schreinern und anderen handwerklichen Arbeiten war und allerhand vom Garten verstand. Er wurde kräftig unterstützt von seiner Frau, die zwar zart, aber zäh war. Sie versorgte das Vieh, verkaufte Hühner und Eier und arbeitete kräftig "auf dem Land". Ihre besondere Fähigkeit aber war das Nähen. Obwohl sie nie schneidern gelernt hatte, nähte sie alles für sich und die Kinder, Fertig gekauft wurden nur der Sonntagsanzug und der "Überzieher" für Hermann. Sie nähte auch noch für andere Leute und verdiente so "manchen Pfennig" hinzu.

Feste feiern, wie sie fallen
Bei Cornelissens war es wohl immer besonders gemütlich, und Maria wußte auch wohl immer den richtigen Geschmack ans Essen zu bringen. Jeden Abend kamen Hermanns Mutter und seine Schwester Trautchen von nebenan mit den Stricksachen herüber. Marias Geschwister, Nelli, Anna und Albert, mit ihren Kindern und Hermanns andere Schwester Dinni kamen häufig zu Besuch. Und schließlich fielen bei so viel Verwandtschaft auch eine Reihe Namenstage, Kindtaufen und Erstkommunionfeiern an.
Wie sich hier sicher viele erinnern, ging es dabei anders zu als heute. Da man zu Fuß ging oder mit der Straßenbahn fuhr, brauchte auf Fahrtüchtigkeit niemand zu achten. Vor allem aber gehörte zum Feiern das Singen. Hermanns Lieblingslied war "Im schönsten Wiesengrunde", das er mit tiefem Baß sang, vielleicht nicht immer ganz im Ton. Von ihm haben wir Kinder wohl - außer Trude -, daß es bei uns mit dem Singen etwas hapert. Maria war dagegen ausgesprochen gut im Singen. Mit ihrer klaren Stimme hatte sie schon als Kind vor der gesamten Schule an Kaisers Geburtstag Gedichte vorgetragen. Wenn der "Arbeiterverein" von Frintrop, dem Hermann angehörte, sein jährliches Stiftungsfest feierte mit Brezelschlagen, Sacklaufen, Eierlaufen und was man damals sonst alles so machte, trat Maria sogar auf die Bühne und trug solo ihr Lieblingslied vor: "Der Hans schleicht umher".

Besonderen Eindruck hat es immer auf mich gemacht, wenn bei den Familienfeiern Onkel Hans, Tante Nellis Mann, das Gedicht "Von de Schlachtetied" vortrug oder "Nils Randers: Krachende, heulende, berstende Nacht". Vielleicht kann uns dies Liesel, seine Tochter, nachher noch einmal vortragen.

Ein Ereignis, über das viel gelacht worden ist, steht mir noch wie heute vor Augen: Es war bei der Erstkommunionfeier für mich. Tante Mathilde, Onkel Alberts Frau, die damals schon alles andere als ein Leichtgewicht war, besuchte das "Häuschen" unten im Hof, ein sogenanntes Plumpsklosett, wie damals noch ganz üblich in Frintrop. Die Holzkonstruktion konnte ihr Gewicht nicht tragen, und sie stürzte hinunter in die "Aalsgrube". Starke Männer mußten sie mit viel Mühe da wieder rausziehen.

Kriegsjahre
Es war aller Grund zur Zufriedenheit da, dann brach am 1. September 1939 der Krieg aus. Ich kann mich noch gut erinnern: Die Milchfrau, "Tante Trine" (Stöckmann), brachte die Nachricht vom Einfall in Polen mit, als sie morgens die Milch brachte.

Am 7. Januar 1941 wurde Hermann eingezogen. Er kam zu den Bodenpionieren bei der Luftwaffe, verdiente sich bei der Ausbildung Sonderurlaub, weil er ein ausgezeichneter Schütze war, und machte dann hauptsächlich in Rostock an der Ostsee und in Rußland Dienst. Da er Vater von fünf Kindern war - im Januar 1939 waren noch Friedel und im März 1941 Anni geboren worden -, mußte er nicht in die vordersten Linien. Er brachte es zum Obergefreiten und erhielt den "Gefrierfleischorden" für den kalten Winter 1941/42 in Rußland.

Für die daheimgebliebene Familie fing der Bombenkrieg an. Zunächst wurde mit den anderen Hausbewohnern ein Luftschutzkeller eingerichtet. Als der Luftschutzkeller im Haus nicht mehr sicher genug war, wurden andere Möglichkeiten gesucht. Eine Zeitlang ging die ganze Familie jeden Abend zu "Tante Marie im Busch", auf halbem Weg nach Borbeck, wo schon ein Luftschutzbunker gebaut war. Zeitweise verbrachten wir die ganze Nacht im Hochbunker am Fliegenbusch oder in Unterfrintrop an der Unterstraße. Schließlich wurde in Selbsthilfe der ganzen Straße ein Luftschutzstollen an "Bockhorns Berg", schräg hinter unserem Garten gegraben. Trude trägt heute noch auf der Stirn eine Narbe als Erinnerung daran: Der Schwengel der Winde, mit der die Schubkarren voll Erde hochgezogen wurden, schlug ihr gegen die Stirn.

Schließlich besann sich Maria auf die Heimat ihrer Väter: Sie packte ihre fünf Kinder und die notwendigsten Dinge zusammen und fuhr nach Heistern in der Eifel, in das Dorf, aus dem ihr Vater stammte und wo noch ganz entfernte Verwandte wohnten. Hier gab es keinen Luftalarm, man kam mit den Leuten gut aus, die Gegend war interessant und schön für uns halbe Stadtkinder. Die Volksschule lag in dem alten Kloster Wenau. Nicht allzuweit befand sich mitten im Wald die romantische Laufenburg. Trude begann auf einer anderen Burg - Holzheim - , einer alten Wasserburg, ihr Pflichtjahr. Es wurden Waldbeeren, Brombeeren und Riesenchampignons gesammelt und sogar wieder Kaninchen fett gefüttert, deren Stall wir uns mit Hilfe von Nachbarn aus Abfallbrettern des nahegelegenen Sägewerks gezimmert hatten. Die Verwandten aus Essen kamen mehrfach zu Besuch. Besonders gut kann ich mich an einen Besuch von Kusine Liesel erinnern, die dabei großen Eindruck auf die jungen Burschen im Dorf machte. Die 13 Monate dort waren sehr schön – wenn nur nicht Hermann im Krieg gewesen wäre.

Dann kam 1944 die Invasion. Uns wurde es in der Nähe der belgischen Grenze zu brenzlig. Mit Sack und Pack ging es zurück nach Frintrop. Dort war der Bombenkrieg in vollem Gange. Als wir am 3. November 1944 nach einem Luftangriff aus dem Bunker kamen, stellten wir fest, daß unsere Wohnung zum großen Teil zerstört war. Jedenfalls konnten wir dort nicht mehr wohnen. Uns blieb nichts anderes übrig, als noch am nächsten Abend mit vielen anderen Obdachlosen einen Evakuierungszug in Richtung Mitteldeutschland zu besteigen.

In Bochum-Langendreer wurde der Zug bombardiert. Mehrere Wagen brannten. Wir stürzten alle hinaus und suchten auf einem Friedhof neben dem Bahndamm Deckung. Bis auf eine Schramme bei mir am Bein durch einen Stacheldrahtzaun kamen wir sechs unversehrt davon. Mit einem anderen Zug ging es dann weiter, zu unserem großen Glück, wie sich später herausstellte, nunmehr in Richtung Süddeutschland. Wenn Tieffliegerangriffe oder neue Bombengeschwader gemeldet wurden, zog sich der Zug in den nächsten Tunnel zurück. Vier Tage waren wir so unterwegs, bis wir eines Morgens in Kaufbeuren im Allgäu aufwachten. Es war der erste Schnee gefallen, und das Land lag im tiefsten Frieden. In Geisenried bei dem Bauern Gebhard neben der Milchküche des Dorfes erlebten wir den Winter, den Einmarsch der Amerikaner und das Kriegsende.

Nachkriegszeit
Mutter hielt nun nichts mehr dort unten. Wir hatten keinerlei Nachricht, was in Essen passiert war, vor allem nicht, was mit Vater war. Mit einigen anderen Familien heuerten wir Ende Mai 1945 einen Bauern an, der uns mit dem Traktor zum nächsten amerikanischen Stützpunkt in Biesenhofen brachte. Auf einem Militärlastwagen gelangten wir nach Ulm, von wo aus schon wieder Güterzüge verkehrten. In Kohlenwagen, auf Tankwagen, mit Gefangenentransporten, zwischendurch wieder ein Stück zu Fuß über Behelfsbrücken, schafften wir es dann, in sieben Tagen nach Hause in Frintrop zu kommen. Dort war in unserer Abwesenheit Tante Trautchen gestorben, die bisher bei Oma Cornelissen gewohnt hatte.

Wir zogen jetzt bei Oma Cornelissen ein, also in Vaters Elternhaus. Die Wohnung war zum Teil zerstört. Aus anderen Trümmergrundstücken holten wir Steine, Bretter und Spalierlatten heraus. Als Mörtel wurde Karbidschlamm genommen, den wir mit unserer Handkarre, die immer noch lebte, aus Unterfrintrop heranholten. Mit Hilfe von Nachbarn konnten wir die Räume wieder bewohnbar machen, wobei uns Konserven und zwei halbe Stoffballen, die wir bei der Auflösung von Wehrmachtsvorräten im Allgäu organisiert hatten, gute Dienste leisteten.

Obwohl das ungewisse Warten die Zeit lang werden ließ, dauerte es nur etwa zwei Monate, bis plötzlich eines Abends Vater in zerschlissener Wehrmachtsuniform im Garten stand. Er war in englische Gefangenschaft geraten und hatte - abgesehen vom üblichen Gewichtsverlust im Lager - den Krieg heil überstanden. Er nahm seine alte Arbeit wieder auf und richtete wieder einen Hühnerstall ein - jetzt aber nur für den Bedarf der Familie. Karnickel und Schwein kamen wieder hinzu, und der große Garten, den er ja schon als Kind mitversorgt hatte, wurde bestellt. Ein Stück Wiese von "Keunes Draisch" nebenan wurde urbar gemacht und mit Kartoffeln bepflanzt. Mit Hilfe der relativ vielen Lebensmittelmarken wegen der fünf Kinder kamen wir dann, was das Essen anging, verhältnismäßig gut über die Zeit bis zur Währungsreform 1948.

Die ersten Jahre nach dem Krieg waren wohl die schwierigste Zeit: Die räumlichen Verhältnisse waren sehr beengt. Oma Cornelissen bewohnte noch eines der Zimmer und hatte später offene TB. Auch wir anderen hatten fast alle einen leichten Lungenschaden. Trude konnte daher für längere Zeit nicht arbeiten, mußte sogar in eine Heilstätte. – Und obendrein war das Einkommen für eine siebenköpfige Familie sehr gering.

Die letzten Jahre
In dem Maße, in dem die Kinder größer wurden, ging es dann leichter. Helmi und später Trude heirateten, Jupp ging weg zum Studieren. 1959 kamen andere Hauseigentümer, Herr Flick und Herr Wellert, die das Haus renovierten. Das Plumpsklosett auf dem Hof verschwand, und es wurde erstmals ein Badezimmer eingerichtet. Die finanziellen Verhältnisse besserten sich. Vater hatte zwar Rheumabeschwerden, ging mehrmals nach Aachen zur Kur, mußte dann seine Arbeit wechseln und tat schließlich bis zur Pensionierung auf dem Parkfriedhof in Essen Dienst.

Die Eltern gingen zu der Zeit erstmals in Urlaub, zunächst ins Sauerland nach Bödefeld und Olsberg. Sie fuhren dann jedes Jahr regelmäßig bis heute für zwei oder drei Wochen weg und haben schließlich noch alle schönen Gegenden Deutschlands und Österreichs kennengelernt.

Vater wurde dann 1967 mit 65 Jahren pensioniert. Sie haben ihre bisherigen elf Rentnerjahre mit Urlaubsreisen, Ausflügen, vielen Spaziergängen, Besuchen bei ihren Kindern voll genutzt und waren - außer im letzten Jahr - meist bei ziemlich guter Gesundheit. Bis vor einem Jahr machte es Mutter nichts aus, wie eh und je von Frintrop nach Borbeck und zurück zu Fuß zu laufen.

Zum Abschluß noch eine Bemerkung: Wenn unser Goldpaar so guter Dinge da sitzt, liegt es vielleicht auch ein bißchen daran, daß sie ihr Leben lang bestimmte Dinge nie getan haben, die uns heute selbstverständlich erscheinen: Beide sind noch nie mit dem Flugzeug geflogen, beide haben nie einen Führerschein gehabt, beide haben nie schwimmen gelernt und Mutter noch nicht einmal das Fahrradfahren.


Nach dem Essen. Oma + Opa in ihrem Wohnzimmer in der Bedingrader Str. 173, etwa 1975.

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