Student mit Ziegenhainer
Die größte Popularität hat das Holz der Kornelkirsche in Deutschland wohl durch einen Spazierstock gefunden, nämlich durch den so genannten Ziegenhainer. Da ihr Holz so fest ist, stellten die Bauern des "Bierdorfes" Ziegenhain südöstlich der Universitätsstadt Jena aus den geschälten Ästen besonders haltbare Knotenstöcke her. Sie wurden zunächst von den Jenaer Studenten getragen, kamen dann sehr in Mode und wurden etwa zum Ausgang des 19. Jh.s in ganz Deutschland unter dem Namen Ziegenhainer bekannt. Bereits in der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste von 1829 hieß es unter dem Stichwort Kornelkirsche: "Das harte Holz liefert gesuchte Spazierstöcke (die sogenannten Ziegenhainer Stöcke)". Dies waren dann die "echten Ziegenhainer". Daneben gab es noch andere, preisgünstigere, die aus dem weniger harten und weit häufigeren Weißdorn gefertigt wurden.
Ein anderes Beispiel für ihre Popularität: In dem 1844 erschienen Roman Die Mysterien von Berlin von August BRASS (1. Band, S. 65) ist zu lesen: "Er trug einen ziemlich dicken Stock, mit einer starken eisernen Zwinge und einem ledernen Riemen an der Handhabe, einen sogenannten Ziegenhainer." Schon früher müssen sie aber allgemein in Gebrauch gewesen sein. So schrieb 1802 die damals 17-jährige Bettina von Arnim, damals noch Brentano, an ihren Bruder Clemens über ihren späteren Mann: "Arnim so schlampig in seinem weiten Überrock, die Naht am Ärmel aufgetrennt, mit dem Ziegenhainer, die Mütze mit halb abgerißnem Futter, das neben heraussah, Du (gemeint ist Clemens) so fein und elegant mit rotem Mützchen ..., mit dem dünnsten Röhrchen ..." (zitiert nach Ingeborg DREWITZ: Bettine von Arnim, Taschenbuchausg., 6. Aufl. 1985, S. 24). Es existierten damals wohl nebeneinander zwei Arten von Geh- oder Wanderstöcken: die derben Ziegenhainer und elegante dünne Rohrstöckchen.

In der Hand des Sekundanten
Der von den Studenten getragene Stock, damals "Stenz" genannt (daraus wohl abgeleitet die Bezeichnung Stenz für einen geckenhaften jungen Mann) hatte eine zweifache Verwendung: Einmal als Spazier- und Wanderstock, wovon eine Vielzahl Bilder aus jener wanderfreudigen Zeit zeugt, dann als Bestandteil der damals häufigen studentischen Duelle, und zwar in Händen der Sekundanten. In den Anmerkungen des 1991 von den Städtischen Museen Jena herausgegebenen Büchleins Mein erstes Semester in Jena, Ottmar Rommels Tagebuchaufzeichnungen aus dem Winter 1821/22 heißt es dazu: "In den meisten Fällen sekundierte man nicht mit Klingen, sondern mit Stöcken, den sogenannten Ziegenhainern, gedrehten, aus dem Holz der Kornelkirsche gefertigten Stöcken, die das Abfangen von Schlägen ermöglichten." Die Illustrationen zeigen eine Anzahl Federzeichnungen aus der damaligen Zeit, auf denen der Ziegenhainer beim Wandern wie beim "Pauken" zu sehen ist. Im Jenaer Stadtmuseum sind in einer nachgebildeten Studentenkneipe aus der Zeit um 1900 zwei Ziegenhainer ausgestellt, beide mit eingeschnitzten Widmungen aus den Jahren 1890 bzw. 1927. Unten tragen sie jeweils eine Eisenspitze mit Blechtülle, einer am Knauf auch eine Lederschlaufe.


Jenaer Studenten beim Fechten. Federzeichnung von Rudolf Beck aus der Zeit 1832/33. In der Bildmitte die beiden fechtenden ("paukenden") Studenten mit ihren Schlägern; daneben die beiden Sekundanten mit den hoch erhobenen Ziegenhainern, an der Spitze angefasst, um dem Komment nicht entsprechende Stöße abzuwehren.


Kornelkirschenholz auch "importiert"
Bereits der Thüringer Volksfreund vom Jahre 1829 berichtete über ihre Herstellung: Die vom Kornelkirschenbusch abgeschnittenen Stöcke wurden mit der Schale in den Ofen des Ziegenhainer Brauhauses gesteckt. Hier wurden sie auf einem vorgelegten Scheit Holz immer wieder herumgedreht, und zwar an beiden Enden, bis die Schale absprang und die Stöcke die gewünschte braune Farbe erhalten hatten. Dann wurden sie in den Wasserbehälter vor dem Brauhaus geworfen und von der noch daran hängenden Schale befreit. Die Knoten wurden sauber abgeschnitten, die Stöcke gerade gebogen und, um sie geschmeidig zu erhalten, im Keller aufbewahrt. Die ersten Ziegenhainer Stöcke wurden im Jahre 1789 von Ernst Gottfried Gundermann gemacht. In den Jahren 1815 bis 1817 verdiente mancher Einwohner Ziegenhains jährlich 500–600 Taler mit ihnen. Große Mengen von diesem "wertvollen Herlitzenholze" wurden aus der Gegend zwischen Freyburg a. d. U. und Stadtsulza sowie von Frankenhausen beschafft. Wie Dr. Ilse TRAEGER in der Jena-Information vom Juli 1994 ausführt, kostete laut einem Verkaufskatalog für Studentenutensilien aus den 1920er Jahren damals ein echter Ziegenhainer 7,50 Mark und ein gedrechselter 5 Mark. Bisweilen seien auch helle Exemplare zu finden, die wie poliertes Horn aussehen.

Drehwuchs konnte künstlich erzeugt werden
Holger LAUTENSACK, technischer Mitarbeiter in den Städtischen Museen Jenas und Fachmann für studentische Gebräuche des 19. Jh., teilte dem Verfasser mit, Kornelkirschen seien auch in der Umgebung von Jena speziell zur Herstellung der Spazierstöcke angepflanzt worden. Ein Stück der Wurzel sei mit ausgegraben worden, die dann den knorrigen Knauf bildete. Eine aufwendigere Art des Ziegenhainers war der gedrehte Stock. Auf natürliche Weise entstand dieser dadurch, dass die ebenfalls auf Kalk wachsende Waldrebe oder das Geißblatt um einen jungen Ast der Kornelkirsche herum nach oben wuchs. Dies konnte man auch dadurch erreichen, dass man neben der jungen Kornelpflanze einen starken Draht in den Boden steckte, um den sich die Pflanze dann allmählich hoch wickelte. Später ahmte man die natürlichen Einschnürungen und Wülste auf der Drechselbank kunstgerecht nach.
Heute werden in Jena-Ziegenhain keine Ziegenhainer mehr angefertigt. Dort wird aber die Tradition dadurch aufrecht erhalten, dass sich eine lauschige Gaststätte mit Biergarten "Zum Ziegenhainer" nennt und als Emblem drei Spazierstöcke führt, davon einer in der gedrehten Form. Man kann dort - neben Kornelkirschen-Marmelade - auch einen "Ziegenhainer" kaufen, wo und aus welchem Holz dieser auch heute gefertigt sein mag.

Wer sich bei jemandem aus Jena, der selbst originale Ziegenhainer angefertigt hat, weiter über diesen Stock informieren möchte: www.ziegenhainer-stoecke.de/. Empfehlenswert ist auch der Besuch der Internetseite www.dr-volta.de/html/ziegenhainer.htm. Dort heißt es im Übrigen, dass "ein ganz normaler Ziegenhainer mit Krümmung 1936 bereits stattliche 70,00 Reichsmark kostete".
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