Goethe schrieb mit ß
Feste Regeln gab es in der Vergangenheit bei der s-Schreibung nicht. Es ist ein amüsantes Spiel, bei älteren Schriften zu beobachten, wie man mit dem s-Laut umging. Hier einige Beispiele:
Als Hoffman von Fallersleben (1798–1874) im Jahre 1841 auf Helgoland das Deutschlandlied dichtete, schrieb er es in deutscher Schrift nieder und verwendete das ß. Er schrieb - wie eine Kopie der Urschrift im Schloss Corvey ausweist, wo Hoffmann lange Jahre als Bibliothekar wirkte und starb - “laßt“ in der bekannten Zeile: „Danach laßt uns alle streben ... .“

In der Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, ist in einer Vitrine ein eigenhändiges Manuskript Goethes mit einem Auszug aus dem Faust I über die Walpurgisnacht ausgestellt. Der zwischen 1800 und 1806 entstandene Text ist in deutscher Schrift geschrieben, wobei Goethe das ß verwendete. So heißt es dort (in Buchstaben deutscher Schrift): "Du mußt".




Platte mit Briefauszug Goethes im Nymphaeum des "Wörlitzer Gartenreichs" (Foto 16.6.2001).



Andererseits steht im berühmten "Wörlitzer Gartenreich" bei Dessau, zum Weltkulturerbe der UNESCO gehörend, das 1767/68 errichtete Nymphaeum mit der Statue eines sich salbenden Ringers. In den Nischen beiderseits der Plastik wurde 1928 ein Briefauszug Goethes vom 14. Mai 1778 an Charlotte von Stein über dessen begeisterte Wörlitzeindrücke angebracht, als er damals den Park besuchte. Dort heißt es in lateinischer Schrift:
"In der sachtesten Mannigfaltigkeit fliet eins in das andere, keine Höhe zieht das Aug’ und das Verlangen auf eine einzigen Punkt, man streicht herum ohne zu fragen wo man ausgegangen ist und hinkommt".
Hierbei wird nicht nur anstelle unseres heutigen ß das verwendet, sondern auch jeweils zwischen dem langen und kurzen s unterschieden. (Allerdings sind wir nicht sicher, ob Goethes Schreibweise genau beachtet wurde.)

Unter den Arkaden des Unnaer Rathauses wurde 1992 eine Anzahl alter deutscher Sprüche entdeckt (die aber möglicherweise erst 1924 angebracht wurden). U. a. heißt es dort in einer Art Frakturschrift:
"Eintracht hat groshe Macht".




Findling am Schweriner See, bei dessen Inschrift jeweils statt des ß ein "langes" und ein "normales" s geschrieben wurde (Foto August 2003).



Man findet aber auch - in umgekehter Reihenfolge - die Schreibweise für ss. Im Kreuzgang des Magdeburger Doms befindet sich eine Grabplatte mit der Inschrift (ebenfalls in lateinischer Schrift):
"Hier ruhet der Justiz Commissarius Carl Heinrich Müller
gebohren den 21. May 1787 u starb den 25. Januar 1820".

Das Doppel-s in Commissarius ist geschrieben. Nach damaligen Regeln richtig: "Rundes s" am Ende, "langes s" am Beginn einer Silbe. Andererseits handelt es sich um ein lateinisches Wort, das von den Römern mit zwei gleichen s geschrieben wurde.

Abnehmende Bedeutung
Mit der Rechtschreibreform von 1998 hat die Häufigkeit des ß stark abgenommen, da es seitdem nach kurzem betonten Vokal durch ss ersetzt wird. Anscheinend ist dies die am stärksten ins Auge fallende Änderung der gesamten Reform. Hauptbeispiel: "daß" wurde "dass". Während man in früheren Jahrhunderten, wie alte handschriftliche Dokumente belegen, offenbar gern und häufig das ß verwendete, muss man sich heute angesichts der stark gesunkenen Bedeutung sogar fragen, ob dies schon der Schlusspunkt der Entwicklung ist, zumal es sich beim ß um eine deutsche Eigentümlichkeit handelt.

Oder zurück zur alten Regelung?
Möglicherweise geht es aber auch zurück zur alten Regelung beim ß. Das Februarheft 2004 der Neuen Rundschau widmet fast eine ganze Seite ihrem Kampf gegen die Rechtschreibreform von 1998. Ganz besonders wendet sie sich gegen die "Neuregelung" beim ß, dem "Paradebeispiel" der neuen Rechtschreibung. In einem besonderem Kapitel dazu heißt es:
Die Neuregelung der Schreibweisen von ss und ß ist die quantitativ bedeutendste und am meisten ins Auge fallende Veränderung durch die Rechtschreibreform. Obwohl sie vorderhand leicht einsichtig und "narrensicher" zu sein scheint, hat sie doch einen schwerwiegenden Strukturfehler, der sie ganz im Gegenteil zu einer Fehlerquelle erster Ordnung macht. Sie bringt das Schriftzeichen ß mit der Aussprache in Zusammenhang (nach kurzem Vokal ss, nach langem ß), aber damit hat das Eszett überhaupt nichts zu tun. Das ß gibt es deshalb, um anzuzeigen, dass zwei aufeinanderfolgende s nicht getrennt werden können. (Das ist zugleich die "alte" – = komplizierte? – Regel: "Wenn ss nicht getrennt werden kann ("Verdruß, schließt") oder darf ("flie-ßen"), ist ß zu schreiben.") Weil an einem Wortende deshalb nie ss stehen kann (sondern nur s oder ß), zeigt das ß zugleich bei Zusammensetzungen die Trennfuge deutlich an.

Dies wird an Beispielen erläutert. Dann kommt es dort noch ganz dick: Die angebliche Neuregelung beim ß sei ein alter Hut, der schon vor langer Zeit wegen Untauglichkeit wieder ausrangiert wurde:
Sie ist aber auch in sich ganz einfach schlecht, weil sie eine reine Kopfgeburt ist - sie wurde 1829 tatsächlich schlicht und einfach von einem Herrn Heyse erfunden! - und an der Grundtatsache vorbeigeht, daß das Eszett zwei untrennbar verbackene s darstellt. ... Es hat sogar schon einmal einen Praxistest für diese "Neuregelung" gegeben: Am Ende des vorvorigen Jahrhunderts galt die Heyse-Regel 20 Jahre lang in Österreich. Dann wurde sie als nutzlos beerdigt und durch die bessere Regelung ersetzt, die wir alle bis vor wenigen Jahren völlig problemlos genutzt haben.
In der Tat erscheinen die Gründe gegen die Neuregelung beim ß überzeugend: Der Verfasser selbst ist der Meinung: Entweder das ß ganz abschaffen (was kulturgeschichtlich zu bedauern wäre) oder nicht mehr zwischen "das" und dass" zu unterscheiden oder zur alten Regelung zurückkehren. Dies hat aber nichts mit der Schreibweise des Familiennamens Cornelissen zu tun. Der Name sollte sich - wie in den nachfolgenden Kapiteln "Ein Buchstabe geht unter" und "Unnaer Cornelissen für ss" näher dargestellt - mit ss schreiben, also "Cornelissen".


Ein wie das ß ("scharfes s") aussehendes Zeichen findet sich schon als Kleinbuchstabe in der griechischen Schrift, die etwa im 8. Jh. die schon lange bestehende Großbuchstaben-Schrift (= Majuskelschrift) durch eine Minuskelschrift (= Kleinbuchstaben) ergänzte. Dort ist ß das Zeichen für das kleine b (= beta), das heute wie w gesprochen wird.

Im Telefonbuch Gleichbehandlung
Das amtliche deutsche Telefonbuch geht dem Problem der s-Schreibung aus dem Weg. Es behandelt "Cornelissen" und "Cornelißen" bei der Reihenfolge der Eintragungen so, als wären sie gleich geschrieben. Dies hat allerdings den verwirrenden Effekt, dass hinter einem "Cornelissen Anton" eine "Cornelißen Berta" kommen kann und dann wieder ein "Cornelissen Dieter".


Grenzprobleme
Die Schreibung des s-Lauts in Cornelissen brachte für die Namensträger ab und zu ein Problemchen. So schrieb sich bis zur Namenskorrektur im November 1985 die Familie Josef und Barbara Cornelissen in Dortmund/Unna wie Eltern und Großeltern mit ss. Im Stammbuch stand aber Cornelißen. Amtlich war also das ß. Als Jupp eines Tages - es war im August 1970 - den für Sohn Jan beantragten Kinderausweis auf dem Standesamt in Dortmund-Wellinghofen abholen wollte, musste er sich als Elternteil ausweisen und seinen Personalausweis vorlegen. Der noch junge Standesbeamte stutzt: Der ausgestellte Kinderausweis lautet auf "Jan Cornelißen" mit ß, im vorgelegten Personalausweis aber steht "Cornelissen Josef". Mit den Worten: "Ihr Personalausweis stimmt ja nicht" fügt er, ohne Kommentar und weitere Frage, unter dem Namen an: "Berichtigt! s. Seite 8". Dort trägt er ein: "Lt. Heiratsurkunde 125/67 Standesamt Essen-Borbeck lautet der Vorname: Josef Albert. Der Hausname wird lt. o.a. Heiratsurkunde mit ß Cornelißen geschrieben". Darunter setzt er Datum, Unterschrift und Dienstsiegel.
Nun hatte Jupp damals häufig in Brüssel in EU-Sachen beruflich zu tun. Bei den Grenzkontrollen, auf der Hinreise erst die deutschen, dann die belgischen Grenzbeamten, auf der Rückfahrt umgekehrt, stutzten diese regelmäßig, blätterten im Personalausweis nach hinten zur Seite 8, lasen sorgfältig die Berichtigung durch, sahen sich den Namensträger mit einem langen Blick an und pflegten dann wortlos den Ausweis zurückzugeben. Der eine oder andere schlug anfangs auch noch im Fahndungsbuch nach.
Bei der beschränkten Beamtenzahl am Aachener Grenzübergang kam es mit der Zeit dazu, dass beim Anblick des berichtigten Namens ein Ausdruck des Wiedererkennens über das Gesicht des Beamten huschte und er hinten nicht mehr nachblätterte. Einem deutschen Grenzer entfuhr es dabei auch: "Ach, Sie wieder!"


Neuerdings ß auch in Internet-Adressen
Seit dem 16. November 2010 kann der Buchstabe ß auch in Internet- und E-Mail Adressen verwendet werden. Relevant ist die Änderung allerdings nur für deutschsprachige Domains, da das ß nur in der deutschen Sprache vorkommt. Ob von dieser neuen Möglichkeit viel Gebrauch gemacht wird, ist zu bezweifeln. Schließlich haben Computer in anderen Ländern das ß in der Regel nicht auf ihrer Tastatur. Man kann dann vom Ausland per Internet oder E-Mail kaum erreicht werden.

Weiter zum nächsten Kapitel: Ein Buchstabe ging unter
Zurück zum Inhaltsverzeichnis
Zurück zur Zeittafel