Saint-Corneille in Compiègne

Reliquien für die neue Reichshauptstadt
Die Stadt Compiègne (1999 rd. 42.000 Einwohner), etwa 75 km nördlich von Paris an der Oise gelegen, spielte in der Geschichte Frankreichs eine bedeutende Rolle. Karl der Kahle (823–877), Enkel Karls des Großen und einer der vier Söhne Ludwig des Frommen, hatte 843 bei der Teilung von Verdun den westlichen Teil des Frankenreichs, das spätere Frankreich, erhalten. Weihnachten 875 wurde er in Rom von Papst Johannes VIII. (872–882) zum Kaiser gekrönt. In Compiègne, das er nach dem Vorbild Aachens zur Hauptstadt seines Reiches ausbauen wollte, errichtete er eine Kirche zu Ehren der Heiligen Cornelius (französisch: Corneille) und Cyprian. Hierzu berichtet die zeitgenössiche Chronik des hl. Bertin, die teilweise von Hincmar, dem damaligen Erzbischof von Reims, verfasst wurde:
Carolus postquam Imperator effectus est, Ecclesias plures aedificavit in villa Compendio, quam de suo nomine Carlopolin appellavit. Nam ibi maximam civitatem aedificare proposuit: Ecclesiam Sanctorum Cornelii et Cypriani construxit et in eadem villa in suo Palatio Ecclesiam Sanctae Dei genitricis quam pretiosissimis reliquiis adornavit. Ibidem etiam obtulit corpus sancti Cornelii atque sancti Cyprani, in quorum adventu composuit Responsorium: Cives Apostolorum.
(= Nachdem Karl zum Kaiser gekrönt worden war, baute er mehrere Kirchen in dem Ort Compiègne, den er nach seinem Namen Karlopolis nannte. Denn er beabsichtigte, dort eine sehr große Stadt zu bauen: Er baute die Kirche zu Ehren der Heiligen Cornelius und Cyprian und in demselben Ort in seinem Palais eine Kirche zu Ehren der heiligen Gottesmutter, die er mit den kostbarsten Reliquien schmückte. Dort stellte er auch den Leichnam des heiligen Cornelius und des heiligen Cyprian aus, zu deren Ankunft er das Responsorium (= Wechselgesang): Cives Apostolorum (= Mitbürger der Apostel) verfasste.)
Nach allen bisher verfügbaren Quellen muss diese Kirche die erste gewesen sein, die außerhalb Italiens Papst Cornelius gewidmet wurde.

Geschenk des Papstes an den Kaiser
Laut der von mehreren französischen Fachhistorikern verfassten Histoire de Compiègne (= Geschichte von Compiègne), 1988, hat Karl der Kahle die Reliquien des heiligen Cornelius 875 nach der Kaiserkrönung von Papst Johannes VIII. als Geschenk erhalten. Bei der in der Chronik des hl. Bertin erwähnten Kirche zu Ehren der Gottesmutter soll es sich um die Kirche eines Klosters handeln, das Karl der Kahle dort schon 865 gegründet hatte und sich später Abbaye Saint-Corneille (= Abtei zum hl. Cornelius) nannte. Sie wurde am 5. Mai 877 im Beisein von Abgesandten des Papstes geweiht. In der Histoire de Compiègne wird dazu die Vermutung geäußert, Karl der Kahle habe vor 877 eine erste Kapelle errichten lassen, die Cornelius und Cyprian geweiht wurde, dann im Jahre 877 die Kirche zu Ehren der hl. Maria. In diese Kirche sei dann die vorerwähnte Überführung der Reliquien der beiden Heiligen erfolgt. So ließe sich auch erklären, dass erst in einer Urkunde König Karls des Einfältigen aus dem Jahre 914 vom "Kloster Saint-Corneille" die Rede ist.

Die Histoire de Compiègne (S. 47) geht davon aus, wenn auch mit Fragezeichen, dass Karl der Kahle neben den Reliquien des Cornelius auch die des Cyprian aus Rom mitbrachte. Dies dürfte jedoch zweifelhaft sein. Eher ist anzunehmen, dass sie aus Karthago über Lyon nach Compiègne gelangten. Mag zwar weiter die Frage der Weihe von Kapelle, Kirche und Kloster umstritten sein, Einigkeit scheint aber inzwischen unter den Fachleuten zu herrschen, dass Kaiser Karl der Kahle die Reliquien der beiden Heiligen nach Compiègne brachte.

Jahrhundertelang bedeutende Abtei
In dem Kloster, das zunächst eher einem Stift entsprach und den Zusatz "königlich" erhielt, versahen hundert Stiftsherren den Gottesdienst. Der Kaiser stattete es mit weiteren berühmten Reliquien aus, insbesondere mit dem Saint-Suaire, dem Grabtuch Christi, und dem Schleier Mariens. Dieser kam aus dem Domschatz von Aachen, während das Grabtuch aus dem Kloster Kornelimünster stammte. Hierbei muss es sich aber, was in der Histoire de Compiègne allerdings nicht gesagt wird, nur um die Hälfte des Grabtuches gehandelt haben. Diese Hälfte hatte Karl der Kahle im Austausch dafür erhalten, dass er aus seinem Reliquienschatz die Schädeldecke und den rechten Arm des hl. Cornelius und ein Stück der Schädeldecke des hl. Cyprian dem Kloster Kornelimünster überließ.

Das Kloster Saint Corneille erhielt viele weitere Reliquien und große Schenkungen. Ende des 9. Jahrh. wurde es allerdings zweimal von Normannen niedergebrannt, die mit ihren Wikingerschiffen die Oise herauffuhren. 1150 wurde die Abtei im Rahmen einer notwendig gewordenen Reform - die Disziplin der Stiftsherren hatte stark nachgelassen - dem Benediktinerorden anvertraut. Im gleichen Jahrhundert wurde die Klosterkirche anscheinend neu erbaut. Die reiche und angesehene Abtei hatte weit verstreut große Besitzungen. Lange Zeit erfreute sie sich der besonderen Gunst der Päpste. Vier französische Könige wurden hier gekrönt und drei Könige sowie ein Kronprinz hier begraben. Die Kirche sah große, feierliche Gottesdienste unter Beteiligung der königlichen Familie und hoher Würdenträger. Einige der Äbte spielten eine bedeutende politische Rolle, waren sogar Ratgeber des Königs. Gleichzeitig war die Abtei kultureller Mittelpunkt, bekannte Theologen wirkten hier.

Nur der Kreuzgang wurde erhalten
Während der Französischen Revolution (1789) wurde die Abtei aufgelöst und die Kirche geplündert. Die Statuen der Könige aus vergoldetem Holz wurden verbrannt und die Gräber geschändet. Schließlich ließ die Stadtverwaltung in den Jahren 1806 bis 1824 die Gebäude aus städtebaulichen Gründen abreißen. Von den umfangreichen Gebäudekomplex blieb lediglich der Kreuzgang aus dem 14. Jahrh. erhalten. Heute ist außer diesem Kreuzgang mit den Grundmauern des südlichen Glockenturms und einigen Mauerresten aus dem 12. Jahrh. nur noch ein Teil des früheren Refektoriums (= Speisesaal der Mönche) zu sehen, das zur Stadtbibliothek umgewandelt wurde (und den Namen Saint-Corneille trägt).


Die königliche Abtei zum hl. Cornelius in Compiègne zur Mitte des 18. Jahrh. (Stich, Stadtbibliothek von Compiègne)


Abgestellt in der Seitenkapelle
Die berühmten Reliquien der Abtei, die im Mittelalter so viele Pilger anzogen, befinden sich heute in der Kirche Saint-Jacques (= hl. Jakob), nur etwa 200 m von ihrem ursprünglichen Verehrungsort entfernt. Diese ehemals königliche Pfarrkirche, deren Baubeginn in die Zeit um 1235 zurückreicht und in der Jeanne d’Arc (= Jungfrau von Orleans) 1430 kurz vor ihrer Festnahme zum Abendmahl ging, ist heute leider in einem renovierungsbedürftigen Zustand. In einer Seitenkapelle westlich des südlichen Querschiffs, dem sog. Sacrarium, sind hinter einem großen Gitter auf mehreren Etagen die Reliquien ausgestellt, die früher zur Abtei Saint-Corneille gehörten. Ihre Fülle ist beeindruckend. Auf einer Anschlagtafel heißt es zu der Sammlung (Übersetzung der franz. Texte vom Verfasser): "Die in dieser Kapelle aufbewahrten Reliquien stammen aus den Kirchen von Compiègne und den Konventen und Klöstern, die Opfer des Vandalismus der Revolution waren." Auf mehreren Blättern, die an der Anschlagtafel befestigt sind, werden die ausgestellten Reliquien kurz beschrieben. Einleitend wird dabei auch auf "bedeutende Fragmente der Leichname des heiligen Papstes Cornelius, als Märtyrer am 16. September 252 gestorben; und des heiligen Cyprian ..." hingewiesen. Insgesamt sind vier Reliquiare mit Überresten des hl. Cornelius aufgeführt:
– St. Cornelius - Schrein aus Kupfer mit Glaswänden.
– St. Cornelius - in einem Reliquiar aus vergoldetem Holz, Armform, endend in einer offenen Hand mit einigen gekrümmten Fingern.
– St. Cornelius und Sankt Cyprian in einem Schrein von champleviertem Email.
– Asche der Heiligen Cornelius und Cyprian - und der Heiligen ... - in verschlossenem Schrein, vergoldetes Holz, Renaissance.
Trotz dieser Angaben ist es für den Besucher vor dem Gitter schwer, die betreffenden Reliquiare zu identifizieren. Nur der blau-emaillierte Schrein mit den Gebeinen der Heiligen Cornelius und Cyprian auf der Mitte der rechten Seite ist mit Sicherheit auszumachen.

Ganz vorn am Gitter und daher gut erkennbar befindet sich ein kleiner Schrein, bei dem auf einem Schriftband zu lesen ist:
Velum Beatae Mariae Virginis
Don de Charles le Chauve à l’abbaye de St. Corneille
(= Schleier der seligen Jungfrau Maria
Geschenk Karls des Kahlen an die Abtei Saint-Corneille)

Bedenkt man die hohe Stellung dieser Reliquien, ihre Geschichte und die großen Verehrung, die sie einst genossen, so erscheint ihre heutige Präsentation kaum angemessen. Ein Vergleich mit Kornelimünster fällt sehr zum Nachteil von Compiègne aus.

Das Grabtuch stand im Vordergrund
Die Verehrung der zahlreichen und bedeutenden Reliquien, mit denen die Abtei Saint-Corneille ausgestattet war, hatte im Mittelalter große Bedeutung, nicht zuletzt auch wirtschaftlicher Art. Die Einkünfte aus Pilgerfahrten zu den Reliquien dürften erheblich zum Wohlstand der Abtei beigetragen haben. Bis zu 40 Tagen gehende Ablässe wurden den Pilgern gewährt, die die Kirche zum hl. Cornelius an bestimmten Festtagen besuchten.
Nach den Unterlagen des Verfassers stand jedoch anscheinend das Grabtuch Christi im Mittelpunkt der Verehrung, nicht der hl. Cornelius, obwohl sich hier sein Leichnam (abgesehen von den weggegebenen Teilen) befand und die Abtei nach ihm benannt war. Eine besondere Bedeutung kam wohl auch dem Schleier der Jungfrau Maria zu. Aus der Histoire de Compiègne, die ausführlich die Vergangenheit der Stadt unter den verschiedenen Aspekten beleuchtet, sind keine Anhaltspunkte für eine bedeutende Verehrung des hl. Cornelius zu entnehmen. Auch an Darstellungen des Heiligen ist dort heute nichts mehr zu sehen. Laut Prof. Zender war aber Compiègne ein "frühes und wichtiges Zentrum der Corneliusverehrung". Während des ganzen Mittelalters sei Cornelius im Kloster "sehr gefeiert" worden, wenn auch der Einfluss von Compiègne auf seine Umgebung verhältnismäßig gering geblieben sei. Die Altäre in Laon, Soissons und Corbie wie die Reliquien in Amiens und Arras dürften nach Zender auf Compiègne zurückgehen.

Stellt man auch hier wieder einen Vergleich mit Kornelimünster an, so hat in beiden Abteien - man könnte von "Ironie des Schicksals" oder auch vom "richtigen Gespür" sprechen - jeweils das eingetauschte Objekt die größte Bedeutung gewonnen. Kornelimünster gab die Hälfte des Grabtuchs her, das dann in Compiègne zur wichtigsten Reliquie wurde. Andererseits wurden die beiden dafür eingetauschten Knochen des hl. Cornelius in Kornelimünster außerordentlich populär und führten schließlich sogar zur weiten Verbreitung seines Namens.

Es blieb der Name
Von der berühmten Abtei Saint-Corneille und der Verehrung des Heiligen blieb außer dem schönen gotischen Kreuzgang wohl nur - oder vor allem - ein Name: Saint-Corneille (= heiliger Cornelius). Mit der Abtei sind so viele Ereignisse der mittelalterlichen Geschichte Frankreichs verbunden, dass man dem Namen Saint-Corneille immer wieder begegnet. Im heutigen Compiègne heißt eine der Hauptgeschäftsstraßen - sie geht vom prächtigen spätgotischen Rathaus aus - Rue Saint-Corneille. Sie verläuft dort, wo früher das südliche Seitenschiff der Abteikirche lag. An diese Straße grenzt auch der erhalten gebliebene Kreuzgang. Eine Plakette des Geschichtsvereins von Compiègne an seiner Außenmauer trägt die Inschrift:
EMPLACEMENT DE L’ABBATIALE
SAINT CORNEILLE
FONDÉE PAR L’EMPEREUR CHARLES LE CHAUVE
DÉDIÉE A SAINTE MARIE
AU DIXIÈME SIÈCLE.
(Ort der Abteikirche St. Cornelius, gegründet durch Kaiser Karl den Kahlen,
gewidmet der heiligen Maria im 10. Jh.)

Etwas außerhalb der Stadt, im Forêt de Compiègne (= Wald von C.), der vor allem durch die beiden Waffenstillstände zwischen Frankreich und Deutschland am Ende des 1. und 2. Weltkrieges bekannt wurde, gibt es einen Chemin de St. Corneille (= Sankt-Cornelius-Weg). In diesem Wald, früher ein beliebtes Jagdgebiet der französischen Könige, liegt auch das schon unter König Francois I. (1494-1547) erwähnte Forsthaus Saint-Corneille-aux-Bois (= Sankt Cornelius im Wald). Die Kapelle dort ist dem hl. Cornelius geweiht.

Vom Grabtuch bis zum Bettpfosten Christi
Um einen Eindruck vom mittelalterlichen Reliquienkult in Compiègne und von der "Konkurrenz" zu geben, in der die Cornelius-Reliquien dort standen, nachstehend ein 1922 angelegtes und in der Histoire de Compiègne wiedergegebenes Verzeichnis der Reliquien der Abtei. Die Fülle der "bedeutenden" Reliquien lässt auch erahnen, welch hohen Rang die Abtei früher einnahm.
Liste der Reliquien, die in der Kirche Saint-Jacques von Compiègne verehrt werden und aus der Abtei Saint-Corneille stammen
I. Reliquien Christi
- Das Heilige Grabtuch
- Das Wahre Kreuz
- Ein Teil der Dornenkrone
- Ein Stück des Heiligen Schwammes aus der Leidensgeschichte
- Ein Teil der Krippe des Herrn
- Ein Stück des Steins, der bei der Beschneidung Christi verwendet wurde
- Ein Stück des Tellers, dessen sich Jesus-Christus beim Letzten Abendmahl bedient hat
- Ein Stück des Bettpfostens Christi
- Eine Reliquie vom Heiligen Grab
II. Reliquien der Heiligen Jungfrau
- Der Schleier
- Kugeln oder Klümpchen von der Milchgrotte nahe Bethlehem, gen
annt Milch der Heiligen Jungfrau
III. Reliquien der heiligen Apostel
- Oberarmbein und Elle des heiligen Philippe, Apostel
- Der Kopf des heiligen Jakob des Jüngeren, Bischof von Jerusalem
- Kleine Gebeine von St. Jakob von Jerusalem, St. Philipp und St. Andreas.
IV. Reliquien der heiligen Märtyrer
- Die Leichname der Heiligen Cornelius und Cyprian
- Der Kopf des heiligen Pantaleon
- Die Leichname von St. Sperat und seiner Märtyrer-Gefährten
- Gebeine der Unschuldigen Kinder
V. Andere Reliquien, die zur Abtei Saint-Corneille gehörten
(Hierunter sind 24 Reliquien aufgeführt, u. a. "ein Stück eines Steins von Bethlehem", "ein Stück vom Felsen des Kalvarienbergs" und vom "grauen Bart des heiligen Petrus".)
(Übersetzung vom Verfasser)


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